Ein Junge namens Aaron

Die Vögel zwitscherten vor Freude über den Sonnenschein und badeten quietschvergnügt im nahegelegenen Teich. Die drückende Hitze machte ihnen nur wenig aus. Ganz im Gegenteil. Die Spatzen hüpften neugierig über die Wiese und hielten Ausschau nach Würmern, während die Tauben lautstark vor sich hin gurrten. Zur gleichen Zeit lag ein junger Mann, an der Schwelle zum Erwachsenwerden, auf einer Couch in einem Zimmer, das sich in der Mittagssonne aufgeheizt hatte. Doch der Junge spürte es kaum. Sein Gesicht war bleich wie die Wand und selbst in der sengenden Hitze des Sommers vermochte er zu frieren. Auch jetzt waren seine Hände so kalt wie Eiszapfen. Die schwüle Luft im Zimmer gefiel dem Jungen sogar und machte ihm den Tag etwas einfacher. Dem Jungen gegenüber ließ sich gerade eine Frau in ihrem Sessel nieder. Sie hatte sich ein Glas Wasser geholt und nahm einen großen Schluck, nachdem sie sich hingesetzt hatte. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn und sie blies angestrengt die Luft aus, als sie das Wasserglas auf den Tisch neben sich abstellte. Die Frau war 43 Jahre alt, das wusste der Junge, doch heute sah sie sogar noch etwas älter aus. Ihre Haare waren wild durcheinander gewühlt und um ihre Augen herum zeichneten sich tiefe Falten ab, die für gewöhnlich nicht so stark ausgeprägt hervorstachen. Der Junge fragte sich, ob es nur die unerträgliche Hitze war oder sonst noch etwas in ihrem Leben ablief, das sie aufwühlte. Er hatte schon vor, sie zu fragen, doch wollte sie letztendlich nicht in Verlegenheit bringen. Bevor er sich umentscheiden konnte, ergriff die Dame das Wort.
„Wie geht’s dir denn mit dem Wetter, Aaron?“, fragte sie, „Mich treibt die Hitze noch in den Wahnsinn.“
Der Junge namens Aaron lächelte amüsiert. Er wusste was für ein schwieriger Patient er war, deswegen beschloss er heute offener zu sein und Dr. Hill eine einfachere Sitzung zuzugestehen. Er hatte sich vorgenommen, nicht mehr so griesgrämig zu sein und Vorschläge von ihr aufgeschlossener gegenüber zu stehen. Aaron weigerte sich, seine letzten Tage in Selbstmitleid und Zorn zu verbringen. Auf diese Weise wollte er auf keinen Fall abtreten und schon gar nicht in Erinnerung bleiben. Es fiel dem Jungen nicht immer leicht, Gefühle der Wut und Hilflosigkeit über sein Schicksal durch Akzeptanz zu ersetzen. Dennoch gab er sich große Mühe, genau das zu tun. Wenn Aaron eines hasste, dann war es, sich verloren zu fühlen. Schon von klein auf hatte der Junge gegen negative Emotionen wie Langeweile, Traurigkeit oder Wut angekämpft und sie durch positivere, schönere Gefühle ersetzt. Er glaubte, dass Emotionen wie Freude, Enthusiasmus oder Liebe durch einen starken Willen hervorgerufen werden können, mit dem man aktiv im Leben vorankommt und sich weiterentwickelt. Aaron wusste nicht, woher diese Überzeugung kam. Es war das Einzige woran er glaubte, doch jetzt stieß er gegen eine Wand, die er nicht durchbrechen konnte. Eine Sackgasse in der es nicht mehr vorwärts ging.
„Ich finde die Hitze recht angenehm.“, antwortete Aaron und blickte durch das Fenster nach draußen, „Dann friere ich nicht so, wie sonst immer.“
Seine Gesprächspartnerin nickte verständnisvoll und fuhr sich vor Hitze seufzend durch die Haare, bevor sie weitersprach.
„Wie war dein Arzttermin? Irgendetwas Neues erfahren?“, wollte sie wissen.
Aaron schüttelte kaum merklich den Kopf.
„Ich sterbe immer noch.“, sagte er scherzhaft.
Doch Dr. Hill hielt es offenbar für unangebracht, zu lachen, auch wenn sie sich ein unterdrücktes Schmunzeln nicht verkneifen konnte.
„Ich muss weiterhin mit Sauerstoff versorgt werden und mich so wenig wie möglich verausgaben, doch das dürfte die kleinste Herausforderung sein.“, fuhr er fort.
Dieses Mal kicherte Dr. Hill und Aaron schloss sich ihr mit einem verhaltenen Lachen an.
„Wie sieht es mit der Transplantationsliste aus? Gibt es da irgendwelche Fortschritte?“, hakte sie mit ernstem Ton nach.
Aaron presste die Lippen aufeinander. Er hatte gehofft, dieses Thema vermeiden zu können.
„Die Muskelkrankheit, die ich habe, beansprucht anatomische Voraussetzungen, die ein transplantiertes Herz erfüllen muss. Die Chance, unter diesen Umständen einen passenden Spender zu finden, ist gleich Null.“, erwiderte er.
Aaron hatte gehofft, es laut auszusprechen, würde etwas in ihm befreien, doch auf seinem Herzen lastete immer noch das Gewicht eines massiven Felsens. Er fühlte sich genauso wie zuvor: Verloren. Dr. Hill versuchte optimistisch zu bleiben.
„Aber es gibt noch Hoffnung.“, entgegnete sie und schien sich selbst nicht so sicher zu sein, ob das eine Frage oder eine Feststellung war.
„Oh ja! Es gibt noch die Hoffnung, dass irgendein unglücklicher Idiot zu tief ins Glas schaut und seinen Wagen um einen Baum wickelt.“, antwortete Aaron sarkastisch, „Hoffentlich hat er dann seinen Organspenderausweis dabei.“
Dr. Hill zog eine Augenbraue hoch.
„Denkst du wirklich so? Es ist eine deprimierende Art, die Dinge so zu sehen.“, fragte sie ihn.
Aaron seufzte innerlich.
„Nein, das tue ich nicht, aber es hilft mir keine Hoffnung zu haben.“, erklärte er, „Hoffnungen werden enttäuscht.“
Dr. Hill runzelte verdutzt die Stirn und schwieg einen Moment, bevor sie etwas erwiderte.
„Wenn du keine Hoffnung mehr hast, warum bist du dann überhaupt hier? “, wunderte sie sich.
Sie versuchte nicht einmal, ihre Gedanken zu verschleiern. Aaron runzelte verdutzt die Stirn.
„Na, um besser mit meinem Schicksal umzugehen.", antwortete er fast schon genervt.
Diesen Satz hatte er schon so oft gesagt.
„Du hoffst also doch noch? Darauf Frieden zu finden, oder nicht?", hakte Dr. Hill bedeutungsschwer nach.
Aaron erkannte, worauf sie hinauswollte. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. "Ich... aber... schon möglich.", stotterte er widerwillig.
Gedankenverloren richtete er den Blick in die Ferne. Manchmal wusste Aaron gar nichts mehr, außer, dass er so gut wie nichts wusste. Vielleicht halfen die Therapiestunden mit Dr. Hill doch mehr, als er sich gewünscht hatte. Dass der Junge Hoffnung hatte, war eine Wahrheit, die er nicht abstreiten konnte. Eine Wahrheit, die ihn weniger zynisch machte, als er sich selbst, erachtete. Er wusste nicht, was er davon halten sollte.
Aaron räusperte sich verlegen. Er wusste nicht, was das zu bedeuten hatte.
„Ist das etwas Gutes oder Schlechtes?“, fragte er vorsichtig.
Er hatte wirklich keine Ahnung. In den letzten Jahren war das schon zu einem Dauerzustand geworden.
„Definitiv etwas Gutes!“, brach es aus Dr. Hill heraus, „Damit können wir in Zukunft arbeiten.“
Aaron lächelte in sich hinein und vergönnte es Dr. Hill, so etwas wie einen Durchbruch bei ihm erreicht zu haben. Doch was nutzte es dem Jungen schon. „In Zukunft“ war für Aaron keine Option mehr und wer wusste schon, ob er nächste Woche überhaupt noch wieder kommen konnte, um weiterhin an seinen Ängsten und Gefühlen der Aussichtslosigkeit arbeiten zu können. Aaron kniff ruckartig die Augen zusammen und schalt sich für seine negativen Gedanken, egal wie wahrscheinlich sie auch waren.
„Reiß dich zusammen!“, schrie er so laut er konnte in seinen Gedanken.
Eine Methode, die er von Dr. Hill gelernt hatte. Manchmal konnte man sich mit unkonventionellen Methoden aus dem Trott seines Verhaltens reißen und Aaron tat alles, um gegen seinen reflexartigen Pessimismus anzukämpfen. Er hasste es, dass seine Instinkte auf diese Weise programmiert waren, doch diesen Charakterzug hatte er sich leider in all den Jahren der Krankheit angeeignet.
„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Dr. Hill besorgt.
Aaron öffnete wieder seine Augen und kam in die Realität zurück. Alles Negative entwich langsam aber stetig seinen Gedanken. Er spürte, wie die Schwere der Angst vor dem Ende etwas leichter wurde und er wieder locker durchatmen konnte. Auch wenn seine ihn langsam tötende Krankheit wie eine schwarze Regenwolke über seinem Kopf schwebte. Aaron hatte sich noch nicht von einem Gewitter wegspülen lassen, doch er wusste nicht, wie lange er noch durchhalten konnte. Dennoch tat er alles, um jenen unausweichlichen Tag, Stunde um Stunde hinauszuzögern. Er hatte schließlich gar keine andere Wahl.
„Mir geht es gut.“, erwiderte er und schenkte Dr. Hill ein warmes Lächeln.
Ehe Aaron sich versah, stand der Minutenzeiger auf zehn Minuten vor zwölf und seine Therapiestunde, die eigentlich nur fünfzig Minuten dauerte, was er übrigens als kleine Abzocke empfand, war schon wieder vorüber. Die restliche Zeit, in der sie über Gott und die Welt, über Kunst und Politik, Filme und Fernsehserien, Sport und Menschen redeten, verging wie üblich wie im Flug und Aaron bemerkte fast schon wehmütig, dass sie es heute zu einem Ende bringen mussten. Zu seiner Überraschung, hatte sich Dr. Hill in den letzten Monaten zu einer interessanten Gesprächspartnerin entwickelt, mit der sich der Junge gerne unterhielt und obwohl sie in vielen Dingen nicht zu hundert Prozent auf einer Wellenlänge waren, so war sie doch offen genug, um sich seine Meinungen und Ansichten aufrichtig interessiert anzuhören. Sie selbst war auch eine äußerst intelligente Frau, die Aaron fortlaufend neue Blickwinkel eröffnete und ihm damit, wie sonst keiner, zu helfen vermochte. Aaron hatte selbst und ohne Einfluss von außen entschieden, therapeutische Hilfe aufzusuchen, um stärker gegen dieses Gefühl der Machtlosigkeit und Verlorenheit ankämpfen zu können. Er selbst war nicht dazu in der Lage, die Kraft dafür zu finden, doch mit der Hilfe von Dr. Hill, schaffte er es besser, mit seiner Situation umzugehen. Auch wenn er es selbst nicht für möglich gehalten hatte. In ihren Sitzungen hatte er Dinge ausgesprochen von denen er gehofft hatte, sie niemals beim Namen nennen zu müssen und gewann neue Einblicke in seine Seele, die ihm zu einem besseren Verständnis seiner selbst verhalfen. Aaron fühlte sich keineswegs frei von Angst, vor dem was noch auf ihn zukommen sollte, oder frei von Wut über sein Schicksal. Doch er hatte gelernt, besser und gesünder damit umzugehen. Alles, was er sich jemals von einer Therapie erhofft hatte, war Frieden mit sich selbst und seinem Leben schließen zu können. Er glaubte, auf einem guten Weg zu sein. Er musste sich nur immer wieder vor Augen führen, dass die Welt weder schwarz noch weiß war und es neben Schatten auch Licht gab. Aarons Licht waren seine Eltern, seine Familie, die nie perfekt war, aber immer versuchte, sich gegenseitig zu unterstützen. Die Zeit, die dem Jungen noch blieb, wollte er so gut es ging mit ihnen verbringen.
Das Klopfen an der Tür riss die beiden aus ihrer eigenen kleinen Welt, die sie sich in ihren Sitzungen um sich herum aufgebaut hatten. Aarons Mutter kam zur Tür herein, um ihn abzuholen. Ihr Gesicht wirkte nun weniger bleich und etwas lebhafter. Wie immer, wenn sie während seiner Therapiestunde etwas für sich tun und Abstand gewinnen konnte. Spätestens in ein paar Stunden würden Sorge und Trauer in ihr Wesen zurückkehren. Also versuchte er, den Anblick seiner Mutter zum jetzigen Zeitpunkt möglichst zu genießen. Die beiden Frauen tauschten ein paar Worte und dann ging es für Aaron nach Hause. Das leise Gefühl der Aufregung, aus dem Haus zu entkommen, und für ein wenig der Hölle, dem von Medikamenten und etlichen medizinischen Gerätschaften ausgestatteten Heim, zu entkommen, klang allmählich ab. An dessen Stelle trat die Ohnmacht über sein Schicksal, die ihn für den Großteil seiner Zeit umklammerte und vereinnahmte. Aarons Krankenbett stand mitten im Wohnzimmer, zwischen Fernseher und Bücherregal, um näher bei seiner Familie sein zu können. Das Zimmer war sehr eng, sodass man sich mühselig verrenken musste, um ins oder aus dem Wohnzimmer zu kommen. Überall stand oder lag etwas, das Aarons Werte aufzeichnete und sowohl den Sauerstoffgehalt im Blut, als auch den Puls maß. Seine Mutter legte ihn in sein Bett.
„Hast du Hunger? Es gibt Spaghetti.", fragte sie ihn.
„Ja, bitte.", antworte Aaron, obwohl er überhaupt keinen Appetit hatte.
Die Ärzte meinten, das käme von den Medikamenten, die den Magen verstimmten. Dennoch versuchte er wenigstens ein paar Bissen hinunterzubringen, um auch seine Mutter ruhig zu stimmen. Nachdem Aaron gegessen hatte, war es Zeit für ein Schläfchen, das er dringend notwendig hatte. Der Schweiß stand Aaron vor Anstrengung auf der Stirn. Er atmete schwer; obwohl ihm Sauerstoff praktisch in die Lungen gepumpt wurde. Er nahm seine Umgebung nur noch gedämpft wahr, als ob er sich in einem Glashaus aufhielt und die Geräusche nicht mehr zu ihm durchdrangen. Es frustrierte Aaron, so kraftlos zu sein und schon bei den einfachsten Dingen fast ohnmächtig zu werden, doch so war es nun mal und nicht anders. Als der Junge sich mit Hilfe seiner Mutter auf die Seite umdrehte, schlossen sich sofort seine Augen und er fiel in einen tiefen traumlosen Schlaf und fand so ein wenig Ruhe im Nichts.
 
Kontakt zum Autor Clemens Blaim:  c.blaim@hotmail.com
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