Mit zweierlei Maß

Er lag am Cruising See auf seinem Handtuch, um ihn herum viele andere in seinem Alter, aber auch jüngere. Gerade wurde ihm mal wieder bewusst, wie ungerecht alles war. Nächste Woche wurde er vierzig. In einer Zeit, wo Jugend und Schönheit alles waren, was blieb ihm dann noch?
Sein Blick machte die Runde. Eingeölte, knackige Männerkörper räkelten sich in der Sonne, braungebrannt und ohne Makel. Manchmal stand jemand auf und verschwand im nahe gelegenen Wald oder ging ins Wasser. Muskulöse, hübsche Kerle, die wussten, was sie sich wert waren und was sie verlangen konnten.
Manchmal hasste er es, schwul zu sein und nicht mithalten zu können. Er war immer das gewesen, was man als unattraktiv bezeichnete. Seine Gesicht war nicht ebenmäßig, er hatte schon früh seine Haare verloren und der Bauchansatz nervte ihn von Kindesbeinen an. Von daher hatte er immer Probleme gehabt, einen Partner zu finden und er wusste auch, warum. Die Szene war oberflächlich, nur auf Äußerlichkeiten bedacht.
Auf dem Handtuch neben ihm war das eincremen ausgeartet, die beiden Männer küssten sich wild und ihre Erregung war nicht zu übersehen. Er schaute eine Weile zu, der Frust wurde stärker und bald betrachtete er lieber wieder andere. Kaum jemand außer ihm blieb lange allein. Dort drüben, der Junge mit den langen, schwarzen Haaren war rassig wie ein Araberhengst. Er sah nur sein Profil mit der großen, leicht gebogenen Nase und die fünf Jungs, die ständig um ihn herum waren. Natürlich, der hatte es leicht mit der Figur eines babylonischen Tempelknaben!
Ihn selbst hatte das Leben nie begünstigt, sein Platz war stets der des Zaungastes. Er musste um alles kämpfen, was einem schönen Menschen einfach zuflog. So wie diesem rassigen Südländer, der hofiert wurde, als sei er der junge Cäsar. Kunststück, er konnte die Puppen tanzen lassen, wie und wo er wollte.
Der Neid auf den Schwarzhaarigen begann, weh zu tun. Er drehte sich weg. Er war sicher, er hatte nicht und würde nie nur auf das Aussehen schauen. Er war niemand, der nur auf die Fassade achtete. Wo waren die Männer, die genauso dachten wie er? Es musste doch auch für ihn jemanden geben, vielleicht suchte er ja nur an den falschen Plätzen. Er wollte endlich eine Chance, aufgrund seines Wesens geliebt zu werden. Von Männern, die sich in den Menschen unter der Hülle verliebten.
Ganz automatisch fand sein Blick wieder zu dem Schwarzhaarigen zurück, der sich gerade katzengleich erhob. Seine Silhouette schob sich schmal, aber wohl definiert vor die Sonne. Was würde er darum geben, bei diesem Mann eine Chance zu haben!
Aber was war das? Zuerst hatte es so ausgesehen, als wolle der nackte Adonis zum Wald, aber dann kam er auf ihn zu. Als er vor ihm stehen blieb und fragte, ob er mit ins Wasser käme,. Machte sein Herz Bocksprünge. Er lud ihm zum sitzen ein.
Der Mann setzte sich neben ihn ins Gras. Zum ersten Mal konnte er in sein Gesicht sehen und erschrak. Eine Gesichtshälfte war von Brandnarben entstellt, die Male auf der Haut sahen aus wie geschmolzenes, fleischfarbenes Plastik. Er zog hektisch an seiner Zigarette und drückte den Stummel schließlich nervös zwischen den Grashalmen aus. Sein Lächeln misslang. Fieberhaft überlegte er, wie er da rauskam. Und dann murmelte er etwas von einem vergessenen Termin und raffte so schnell wie nie seine Sachen zusammen. Dabei bemerkte er den wissenden, traurigen Blick des Schwarzhaarigen nicht. Er ließ ihn einfach sitzen und floh. So unattraktiv war er ja nun doch nicht, dass er sich mit so etwas einlassen musste.

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