Der irische Geschichtenerzähler

Ich war noch nie in Irland, aber an diesem Abend wusste ich einfach nicht, was ich alleine in dieser Stadt unternehmen sollte. So ließ ich mich einfach durch die Straßen treiben, bis ich an einem Schild mit der Aufschrift: „Irische Geschichten-Nacht“ hängen blieb. Vielleicht war es aber auch nur das Verlangen nach einem richtigen Bier.

Ich stieg die alte enge Holztreppe hinauf und landete in einem alten gemauerten Kaminzimmer. Gerade legte jemand neues Holz in den Kamin. Es war wohlig warm und der Raum wurde nur durch das Feuer und ein paar herumstehenden Kerzen spärlich erleuchtet. Neben dem Kamin stand ein altes Klavier. Ich setzte mich an einen kleinen Tisch mit Blick auf das Kaminfeuer. Das Guinness wurde einfach auf den Tisch gestellt ohne zu fragen. Es war tiefschwarz, cremig und ging die Kehle hinunter wie Öl. Langsam kamen vereinzelt noch ein paar Leute die enge Treppe hinauf und nahmen auf den herumstehenden Sofas, Holzbänken und Stühlen platz. Nur noch der grüne zerschlissene alte Ohrensessel, links neben dem Kamin, blieb frei. Vom Tresen löste sich nun ein alter, graubärtiger Mann im Strickpullover und steuerte mit seinem Guinness auf den Sessel zu. Er nahm einen kräftigen Schluck des schwarzen Goldes und schloss die Augen. Sein Publikum beachtete er dabei gar nicht. Es wurde ruhig im Kaminzimmer. Nur noch das Knistern der brennenden Holzscheite war zu hören. Er richtete sich etwas auf und beugte seine Kopf nach vorne. Die Augen waren immer noch geschlossen und so fing er einfach zu erzählen an. Seine Stimme war gefärbt von zuviel Tabak, harter Arbeit und Whisky und doch prägte sie sich so in den Kopf ein, dass die grüne Insel vor dem geistigen Auge auftauchte. Ich sah die Dörfer und Gestalten, die er beschrieb, ganz klar vor mir. Wir alle, die wir ihm zuhörten, schwelgten in diesem Erzähltraum. Er nahm uns mit auf die Reise nach Irland, in sein Dorf und zu seinen Verwandten, Er erzählte von traurigen und lustigen Begebenheiten und für ein paar Stunden waren wir alle Iren. Hier in diesem Irish-Pub, am Ende der Welt, so weit weg von Dublin/Ireland. Als das Feuer im Kamin erloschen war, ging auch die Reise nach Irland zu Ende. Zurück blieb nur noch die glimmende Asche im Kamin, die leeren Guinness-Gläser und die Nebelschwaden des Tabakrauches, der sich langsam auf den Fußboden senkte.

 

Tino Dittrich - Kontakt zum Autor: Tino@tinodittrich.de
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