An der Schleusenbrücke     

Ich kann noch immer nicht von der irrigen Ansicht lassen, daß sich der Charakter eines Menschen irgendwie in seinem Gang und in seinem ganzen Aussehen ausdrückt. Wenn ich meinen monatlichen Betrag von der Bank abgehoben habe, setze ich mich gewöhnlich auf eine Bank am Rande des großen Platzes und sehe den vorbeiflutenden Menschen zu, Großstadtbewohner und untergemischte Touristen aus aller Welt. Durchweg schlechte Charaktere, wenn man nach ihren unharmonischen Schritten, ihrer nachlässigen Kleidung und ihren platten Alltagsgesichtern gehen würde. Ich staune immer wieder, wie schlecht sie ohne Not gekleidet sind, welche farblichen Katastrophen an mir vorbeischlendern, wie Jacken und Pullover nicht zu den Hosen passen, die Blusen nicht zum Rest, vom klotzigen Schuhzeug ganz zu schweigen. Das können unmöglich ausgeglichene und stimmige Zeitgenossen sein, vielmehr treiben da Lebensruinen an mir vorbei, mehr oder minder ramponierte. 

Ein paar Schritte von meiner Bank entfernt ist der Fluß zu einem schmalen Wasserbecken verengt, und unter einer Fußgängerbrücke befindet sich eine Schleusenkammer, die ab und an in Funktion tritt und einen kleinen Ausflugdampfer hinabläßt, dem großem Strom entgegen. Nur selten beugt sich jemand über das Geländer, um dem Schleusenvorgang zuzuschaun, alle sind viel zu beschäftigt, mit sich selbst oder wer weiß womit. Auch ich bin natürlich beschäftigt, ich beobachte ja, und manchmal klopfe ich auf die Brusttasche meiner Jacke, worin ich die Scheine weiß, bilde mir ein, daß sie knistern, wenn ich ihr Vorhandensein überprüfe. 

Ich achte vor allem auf die vorbeigehenden Frauen, die erstaunlichsten Exemplare jeglichen Alters, von der ausufernden Matrone, die ihre Pfunde mühsam über die steinerne Pflasterung schleppt, bis zu dürren Pubertierenden, die mit ihren schlenkernden Gliedmaßen nichts anzufangen wissen. Aber diese Extreme fallen schon beim flüchtigen Hinsehn durch mein Beobachtungsraster, in dem sich nur die angenehmeren Ansichten verfangen und ihren Auftritt haben. Allein den gut proportionierten Gestalten folgen meine Blicke, und je verheißungsvoller die Formen sind, desto länger ruhen meine Augen auf ihnen. Ich starre jedoch nicht darauf, betrachte das Schauspiel vielmehr ganz vorsichtig und ohne merkliches Wenden des Kopfes, nur der Blick folgt abgestuft einer aufgenommenen Spur. 

Und dann sehe ich ein Prachtstück, mit festem Schritt und leicht wiegend dahinschreitend, sicher und selbstbewußt. Unwillkür fasse ich nach der Brusttasche, merke aber rechtzeitig, daß ich mich nur des Geldes vergewissern will, aber doch ganz genau weiß, daß es vollständig dort steckt und nur hervorgezogen werden muß. Also könnte ich jetzt aufstehen, mich ohne Hast der Siegesgewissen nähern, sie gewinnend anschauen und wie von ungefähr fragen, ob sie nicht Lust auf einen Capuccino hätte, dort drüben sei – ich zeige hinüber zu den Arkaden -  ein Café. Sie würde mich zuerst überrascht mustern, aber meine freundlichen Absichten gleich durchschauen – und ja doch, ein Kaffee wäre jetzt genau richtig. 

Aber warum stehe ich nicht wirklich auf, warum gehe ich nicht auf die sicher und selbstbewußt Dahinschreitende zu, obwohl ich doch weiß, daß sie mir ins Café folgen würde, wo wir uns darüber austauschten, wie man andere Menschen an Ihrem Gang und ihrem ganzen Auftreten erkennen kann, ihren Charakter daraus einwandfrei erschließt. Was hindert mich daran, meine Theorie praktisch zu erproben? Traue ich etwa meinem eigenen Gang nicht? Bin ich von meinem vertrauenerweckenden Aussehen nicht überzeugt? Oder taucht einfach kein weiteres Prachtexemplar auf, nachdem ich das erste habe vorbeiziehen lassen und eben nicht aufgestanden bin?   

Wenn das Warten dann keinen Sinn mehr hat, stehe ich auf, gehe zur Schleusenbrücke und beuge mich über das Geländer. In der Kammer sinkt das Wasser unmerklich, und man muß länger hinschauen, um eine deutliche Veränderung zu bemerken. Sobald das untere Niveau erreicht ist, wirft der Kapitän des Ausflugdampfers den Motor wieder an, und ganz langsam gleitet das Schiff aus der Schleusenkammer, wirbelt hinter sich das Wasser auf, das in einem Strudel Papierschnitzel, Zigarettenstummel und anderen Unrat verschlingt und auch meinen Blick mitzieht.     
 

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