rain city
Ich weiß wirklich nicht, warum ich dieses hier geschrieben habe, ich glaube, weil ich Regen liebe und Aachen haße. Sehr paradox, oder nicht? Aber um das ganze näher zu erklären, es ist eine Geschichte, die aus den folgenden Elementen bestehen könnte: Eine Portion Shadowrun, eine Prise The Crow, zwei Löffel strange days und eine Tasse voll mit Regen aus Aachen, der an einem Sonntag Abend aufgefangen werden muß ...

Welcome back in rain city.
Ihr seid also wieder einmal nach Seattle gekommen, um eine meiner Geschichten zu hören? Ihr wollt das Leben der gefährlichsten Stadt diesseits des Amazonas wieder einmal hautnah erleben? Ihr wollt die Stadt besuchen, in der es 300 Tage im Jahr regnet, in der der Regen genau so viel über die Mentalität der Bewohner aussagt wie die Verbrechensstatistik?

Für die unter euch, die das pulsierende Leben des Plex bevorzugen, ist dies hier der richtige Ort. Euer erster Eindruck von dieser Stadt dürfte der gewesen sein, daß es hier dreckig und hektisch ist. Niemals Ruhe und Geborgenheit, nirgendwo Liebe und Zuneigung. Aber dieser Eindruck wird sich schon bald ändern, denn hier pulsiert das Leben. Ihr werdet in einen Sog des Wahnsinns gelangen. Ihr werdet euch dem Rhytmus des Plex anpassen. Es ist unvermeidlich. Ihr könnt es nicht verhindern. Ihr werdet feststellen, daß der Plex nie schläft, das er niemals zur Ruhe kommt und niemals eines seiner Opfer wieder hergibt. Niemand verläßt den Plex, ohne sich zu verändern.

Tagsüber sind die Straßen gefüllt mit den hart arbeitenden Menschen dieser Stadt. Die Straßen sind gefüllt mit Autos aller Güten- und Markenklassen. Die Bürgersteige quellen über vor geschäftigen Menschen, die schnell irgendwo hin müssen. Die Seitengassen sind gefüllt mit den Wracks unserer Gesellschaft, ausgebrannt und verloren in einer Welt, die sie nicht mehr verstehen.

Wenn es dunkel wird, füllen sich die Straßen mit jenen, die lieber im verborgenen Leben.

Nachts sind die Straßen gefüllt mit den Wagen der Abenteuerlustigen. Die Bürgersteige bersten vor Aktivität und Geschäftigkeit. Kein Geschäft ist zu schmutzig, keine Aufgabe zu schwierig; für jene, die ihre Waren feilbieten. Es macht keinen Unterschied, ob es die Gangs sind oder die Nutten oder die, die  nicht einmal einen Namen haben. Wichtig ist nur, ob du bezahlen kannst. Ihnen ist es egal, ob du mit Geld bezahlst, mit deinem Leben oder mit dem Leben eines anderen, daß einzige, was sie interessiert, ist ihr Gewinn.

Wenn du einer von diesen Adrenalinjunkies bist, bitte sehr. Tu dir keinen Zwang an, ich werde dich nicht aufhalten, ganz bestimmt nicht. Ich werde noch ein Glas Ale bestellen und auf dein Wohl trinken, mehr kann ich nicht für dich tun.

Wenn du einer von denen bist, die etwas anzubieten haben, komm zu mir. Ich werde dir helfen jemanden zu finden, der dir nicht die Kehle durchschneidet. Gegen ein kleines Entgeld versteht sich, schließlich muß ich ja von irgendwas mein Ale bezahlen.

Wenn du einer von jenen bist, die eine Dienstleistung anzubieten haben, auch dir kann ich helfen. Geh mit mir, der Tod, den ich dir schenke, wird schnell und schmerzlos sein. Besser als alles was dir auf der Straße passieren wird, glaub mir. Ich weiß, wovon ich rede, ich habe es erlebt, ich war dabei.

Und wenn du einer von diesen Typen bist, die noch nicht wissen, was sie wollen, dann empfehle ich dir: Dreh dich um und lauf, lauf so schnell und so weit wie du kannst, wenn du Glück hast haben sie dich noch nicht bemerkt. Wenn du Glück hast. Und Glück wirst du brauchen, ne' ganze Wagenladung voll.

Ich dagegen sitze weiterhin hier, in meinem Pub. Ich sitze am Fenster vor meinem Ale und beobachte die Aktivität hier im Plex.

Mein trüber Blick gleitet über die gegenüberliegende Straßenseite. Es hat wieder angefangen zu regnen. Die Tropfen fallen in dicken, langen Fäden, wie ein Vorhang verhüllen sie das Angesicht dieser Stadt. Dieser tödlichen und nassen Stadt.

Auf der anderen Straßenseite duckt sich eine Nutte unter den dürftigen Schutz eines Häusereingangs, das Wenige, was sie an Kleidung am Leib trägt, kann ihr gegen den ätzenden Regen nicht helfen. Sie ist jung, kaum 17 Jahre alt, und was nicht zu übersehen ist, sie ist hübsch, nicht auf diese verdrehte, übertriebene Art mit riesigen Brüsten und langen Beinen und so, sondern einfach nur hübsch. Die Natur hat bei ihr einfach nur alles Ansprechende gut verpackt und eine vernünftige Symmetrie hergestellt. Einfach hübsch, die Kleine.

Zu ihrem Leidwesen haben das auch die beiden Kerle festgestellt, mit denen sie sich gerade unterhält. Die Kleine scheint nicht besonders schlau zu sein, denn den beiden gefällt nicht, was sie hören.

Das, was kommt, ist unvermeidlich.

Der erste Schlag trifft sie im Gesicht, der zweite trifft sie in der Magengegend, ihr kleiner, junger, hübscher Körper hat dem nichts entgegenzusetzen. Sie bricht auf dem nassen Asphalt zusammen, die zwei Typen packen sie und zerren sie in die nächste Seitenstraße.

Ich wende mich vom Fenster ab und schließe die Augen, nach zwei Sekunden schüttel ich seufzend den Kopf und widme mich wieder meinem Ale.

Ich bezweifle das ich die Kleine je wiedersehen werde, sollte sie noch am Leben sein, wenn die zwei mit ihr fertig sind, was ich bezweifle, werden sie sie an den nächsten Organhändler verkaufen, um noch etwas Geld aus ihrem tollen Abend zu schlagen. Danach werden sie noch ein paar Bier auf das Wohl der Kleinen trinken und sich überlegen, was sie morgen machen.

Ein ganz normaler Vorgang in einer ganz normalen Nacht, nichts besonderes für diese Stadt. Der Plex ist voller Schicksale wie das der kleinen Nutte von gegenüber. Aber für sie ist es vorbei, sie hat es bald hinter sich. Wir anderen dagegen müssen weiterleben. Weiterleben mit der Schande und der Schuld, mit unserem Gewissen, welches uns plagt in der Stunde des Wolfes. In der Zeit zwischen Wachsein und Schlaf. In der Grauzone unserer Gedanken. In dem Zwielicht unserer vermeindlichen Fehler. In der Zeit, in der wir keine Kontrolle haben über das, was uns zu schaffen macht, in der alles auf uns einstürzt, was wir sonst so sorgsam zurückdrängen. Wir können es nicht aufhalten, und das ist es, was uns Angst macht. Es ist die Zeit, in der wir uns selbst hilflos ausgeliefert sind. Die Zeit, in der wir uns nicht selbst belügen können, um uns vor der Wahrheit zu schützen. Die Selbsterkenntnis, daß wir doch nicht imstande sind, etwas zu verändern. Die Erkenntnis, daß wir nur Würmer im Angesicht des Universums sind. Das Leben geht weiter, ob mit oder ohne uns. Niemanden interessiert in hundert Jahren noch, was ich mir hier heute Abend über meinem Ale für Gedanken gemacht habe, wirklich niemanden.

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