Miss Polly verstrickt sich

 
Abends, wenn der Tag in sein Koma fällt, holt Miss Polly ihr Strickzeug und baut bunte Maschen aus Luft. Erst gestern kam Carsten C. auf seinem Schimmel vorbei geritten und parkte die goldene Kutsche mit dem gläsernen Sarg direkt vor dem Eingangsbereich zur Tür. Miss Polly verwebt das Gestern mit Wolle zu morgen.
Heute ist bei Carsten C. Koffer packen angesagt. Über das Wochenende geht es mit La Sognatrice nach Hameln. Fotos machen und was sich sonst so ergibt nach zehn Jahren Ehe, wenn Langeweile den Himmel verklebt.
Miss Polly spürt die Anwesenheit von Carsten C. und leider auch die von La Sognatrice. Schneller stricken im immer gleichen Muster. Eins links, eins rechts, eins fallenlassen. Aber wen? Heiße Nadeln stolpern fliegend über Fäden.
Bereits vor Stunden ist Carsten C. mit La Sognatrice in das Hotel eingefallen. Auch Fotos werden später noch folgen. Erst einmal wird aus nah näher. Da liegt was in der Luft.
Miss Polly nimmt ein Knistern wahr. Schnell greift sie zur Flasche Bier, die immer stets beständig und für alle Fälle jederzeit an der Kante des Sofas lauert, seit das einst bunte Leben als Blumenfrau an Farbe verloren hat. Die Nadeln schlagen wild aneinander. Lärm siegt über Stille.
Zwei Tiere stehen sich im Kampf gegenüber. Sieg und Niederlage in wechselnder Rolle. Schweiß fließt. Nur Stunden später wird das Laken vom Zimmermädchen zu Grabe getragen.
Miss Polly zerrt die Vergangenheit aus bereits Gestricktem. Da unten leuchtet es farbenfroh mit Kutsche und Gaul als Muster erkennbar. Bilder benebeln das Hirn.
Danach sitzen La Sognatrice und Carsten C. bei Flackerlicht vor Barolo, Kalb, Salbei, Serrano. Worte hallen im Raum wie Donnerschlag. Der Kellner nimmt Anteil aus nächstmöglicher Entfernung. Bekanntes weckt selten Interesse.
Das Tempo fällt. Nadeln vergraben sich tief im Strickwerk und graben an Krümeln loser Versprechen. In Blut leuchtet Hoffnung aus dem Dunkel hervor. Nur noch ein Schluck bis zum Glück, denkt Miss Polly.
Im Il Capriccio ist das Gewitter ausgebrochen. Blitze durchschlagen Holz. Verkochte Konserven gehen in Flammen auf. Das Restaurant wird geflutet. Erste Gäste schwimmen zur Pforte hinaus ins Freie. Gebrochene Blicke begegnen gebrochenen Herzen.
Vor Carsten C., Mister K und Herrn Unmut gab es noch Fred, 17 Jahre alt. Zwei Zimmer werden manchmal von mehr als nur einer Wand getrennt. Miss Polly strickt im Akkord, in dem Fred soeben ertrinkt.
Siehe da. Ein Regenbogen zeigt sich am Horizont und spiegelt 7 Farben vom Il Capriccio ins Wohnzimmer von... Gänsehaut bei Carsten C., La Sognatrice und Miss Polly. Es kann immer nur einer gewinnen.
Ein letzter Sprint vor dem Ziel. Maschen zittern Erschöpfung. Strick, Miss Polly, strick. Von damals auf jetzt bis unendlich werden die Letzten die Letzten sein.
Hände verirren sich, erneuern Versprechen. Münder beschwören ewigen Eid.
Das Strickwerk ist getan. Das neue Leben gemalt. Jetzt noch die Löcher stopfen und alles sieht aus wie wahr. Nur irgendwo frisst sich der Dreck ins Getriebe eines alten Audi und ein Marder knabbert am Kabel entlang. Miss Polly lächelt. Die Flasche ist leer und Glück braucht so wenig.
Als das Telefon klingelt sagt Carsten C.: Vorbei.

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