Mandy und die Busfahrt nach Slowenien

Sie fiel mir gleich auf, das einzige Kind im Reisebus nach Slowenien. Die jüngsten Fahrgäste an Bord des großen Reisebusses –außer ihr -waren vielleicht grad mal 40 Jahre alt.

Alleine kauerte sie auf ihrer Sitzbank und schien zu schlafen.

Bis dahin nichts Ungewöhnliches. Begann die Fahrt doch schon kurz nach Mitternacht in Dresden. Wer weiß, wo das Kind eingestiegen war.

Mein Mann und ich stiegen gegen sechs Uhr an einer Tankstelle zu. So war es mit dem Reiseunternehmen ausgemacht.

Von meinem Sitzplatz aus konnte ich das schätzungsweise neunjährige Mädchen beobachten.  

Auf der Sitzbank vor ihr unterhielt sich ein Paar. Ich schätzte sie  so ende fünfzig.

Ich beobachtete die Leute während ersten Stunden unserer Busfahrt immer neugieriger. Das Mädchen schien zu ihnen zu gehören. Sie gaben ihr etwas zu trinken und ein Medikament, als sie kurz aufwachte. Nach fünf Stunden Fahrt, kam mir die Sache doch komisch vor. Ich fragte die Angehörigen des Kindes, ob ich mich eine Weile zu ihrer Tochter setzen darf. „Sie ist nicht unsere Tochter, sie ist unsere Enkelin“, erhielt ich ziemlich barsch vom Großvater zur Antwort. Mir tat das Mädchen leid. Während der ganzen Fahrt hatten weder der Opa, noch die Oma mit ihr geredet. Also setzte ich mich neben sie.

„Hallo, wie heiß du denn?“

Sie antwortete sehr leise und schläfrig:

„Ich bin die Mandy. Ich bin so müde.“

Ich sah, dass das Kind weiter schlafen wollte und ging wieder an meinen Platz zurück, zu meinem Mann.

„Mir kommt das alles sehr seltsam vor. Das Mädchen schläft jetzt schon während der ganzen Fahrt. Wenn sie aufwacht, gehe ich noch mal hin zu ihr.“

Es dauerte auch nicht lange und sie verlangte von der Oma etwas zu essen. Diese Gelegenheit nahm ich wahr und setzte mich abermals zu ihr.

„Hey Mandy, bist du aber eine Schlafmütze!

Sag mal, soll ich dir eine Geschichte erzählen. Es ist doch langweilig, die ganze Fahrt zu verschlafen.“

„Ja gerne!“

Ich erzählte ihr eine Tiergeschichte, die auch meinen Enkeln gut gefällt. Mandy hörte aufmerksam zu. Plötzlich schmiegte sie sich an mich und erzählte von sich:

„Ich möchte gerne Tierärztin werden, wenn ich erwachsen bin. Ich  hatte zu Hause eine Katze und einen kleinen Hund. Doch seitdem die Mutti einen neuen Freund hat, wurden die Tiere weggebracht. Wohin, dass weiß ich nicht. Der Onkel Jörg hat eine Tierhaarallergie.“

Das Kind wischte sich verstohlen über die Augen. Es konnte noch nicht lange her sein, dass sie auf ihre geliebten Vierbeiner verzichten musste. Mir kam ihr Verhalten, sich an mich, eine wildfremde Person zu schmiegen, sehr seltsam vor. Wie liebebedürftig musste sie sein?

Mandy redete, so kam es mir vor, ihren ganzen Kinderkummer von der Seele. Sie tat mir so sehr leid, dass ich sie in den Arm nahm.

Man hörte aus all ihren Worten die große Traurigkeit und Verzweiflung einer misshandelten Kinderseele heraus.

„Mandy, da musst du aber eine sehr gute Schülerin sein, wenn du außerhalb der Ferien verreisen darfst?“

„Meine Mama hat mich in der Schule krank gemeldet. Das darf ich aber niemand sagen, sonst schlägt mich der Onkel Jörg. Er schlägt mich immer, wenn ich was sage, was ich nicht sagen soll.

Er fährt mit der Mutti auch eine Woche in den Urlaub. Wohin sie fahren, das haben sie mir nicht gesagt. Und da die Großeltern genau in  dieser Woche nach Slowenien wollten, mussten sie mich eben mitnehmen.“

Plötzlich drehte sich der Großvater zu uns herum und schnauzte das Mädchen an:

„Halt deinen Mund du geschwätzige Göre, sonst kriegst du eine dran!“

Mich ekelte die Bierfahne des Mannes an, und mein Herz krampfte sich zusammen. Was tun diese Menschen bloß der kleinen Mandy an?

Als ich mich wieder nach hinten zu meinem Bernd setzten wollte, hielt sie mich fest.

„Bleib doch bei mir – bitte,  bitte.“

„Das geht leider nicht, ich fahre ja nun mal mit meinem Mann in den Urlaub. Wenn ich den so lange alleine lasse, fühlt er sich vielleicht ein bisschen einsam. Aber weißt du, liebe Mandy, wenn wir vielleicht im selben Hotel untergebracht sind, unternehmen wir mal was zusammen, wenn es deine Großeltern erlauben, - einverstanden?“

Mandys Augen strahlten.

Leider hatten wir nicht dasselbe Hotel.

Ich musste die ganze Woche über an das Mädchen denken.

Auf der Heimfahrt trafen wir diese Familie wieder. Mandy saß, wie auf der Hinfahrt, alleine auf ihrer Bank. Der Opa trank Bier, die Oma döste vor sich hin, oder blätterte in einer Illustrierten, und das Kind schlief.

Auf einem Rastplatz trat ich neben den ziemlich angetrunkenen Mann.

„Ihre Enkelin ist aber ein sehr ruhiges Kind.“

„Ja, ja, das ist sie. Und wenn sie aufmuckt, bekommt sie wieder eine Tablette.“ 

Bevor wir an „unserer“ Tankstelle wieder ausstiegen, ging ich nochmals zu der schlafenden Mandy hin. Mit Tränen in den Augen strich ich ihr über den Kopf, mit dem Wunsch, sie möge in ihrem Leben immer wieder Menschen treffen, an die sie sich ein bisschen anlehnen kann und die sie ab und zu in die Arme nehmen. 

Kontakt zur Autorin: Brigitte Richter -  richter-thierbach@gmx.net  
Copyright 2003, Brigitte Richter
Alle Rechte vorbehalten
zurück zu Brigitte Richter zurück zur Startseite